4 Tage – zeitgenössische Architektur am Wasser
Kaum ein anderes Land kann mit einer solchen Dichte an außergewöhnlichen Bauten und städtebaulichen Ensembles aufwarten wie die kleinen Niederlande. Rem Koolhaas, MVRDV und UN Studio sind nur einige der Namen, die in den letzten Jahrzehnten international berühmt geworden sind. Amsterdam ist für seine einzigartige Altstadt bekannt, birgt aber auch eine Fülle an zeitgenössischen Bauten. Rotterdam hingegen ist eine durch und durch moderne Stadt mit beeindruckender Hafenlandschaft. Beide haben ganz besondere Architektur zu bieten – in den Stadtzentren, am Wasser und auf künstlichem Land. Die viertägige Reise beginnt in Amsterdam, wo Sie vor allem Gelegenheit haben aktuelle Projekte am Wasser kennenzulernen, darunter den spektakulären Wohnblock Sluishuis von BIG. Am zweiten Tag geht es weiter nach Rotterdam, wo Führungen durch die Innenstadt und die transformierten Hafengebiete auf dem Programm stehen, aber auch Besuche des Boijmans Depots und der Markthalle von MVRDV.
Die Reise wird in Zusammenarbeit mit Guiding-Architects-Partner architour organisiert und in deutscher Sprache von dem Architekten Allard van der Hoek moderiert.
Der Rijnhaven ist ein Ende des 19. Jahrhunderts angelegtes Hafenbecken in Rotterdam. Nördlich grenzt es an den Wilhelminapier, der seit Ende der 1990er Jahre in ein Hochhausviertel mit Bauten von Stararchitekten wie OMA, Álvaro Siza und Mecanoo transformiert wird. Südlich liegt die Halbinsel Katendrecht, ein ehemaliges Hafenarbeiterviertel, dessen Gentrifizierung vor einigen Jahren begonnen hat. Neben zwei ehemaligen Lagerhäusern, von denen eines einen Wohnungsaufbau von Mei Architects & Planners erhalten hat und das andere derzeit in ein Immigrationsmuseum mit Aussichtsrampe nach Entwurf von MAD Architects transformiert wird, thront dort noch immer der Betonkoloss der Codrico-Mehlfabrik und verströmt etwas ruppige Hafenatmosphäre.
7 Stadtprojekte
In Zukunft soll sich der Rijnhaven jedoch gründlich verändern, denn das alte Hafenbecken ist eines der 7 Stadtprojekte, in die Rotterdam in den nächsten zehn Jahren insgesamt 233 Mio Euro investieren will. Aufgrund des stark versiegelten Nachkriegsstädtebaus und da ein Großteil des Stadtgebiets unter dem Meeresspiegel liegt, steht die Hafenstadt vor besonders großen Herausforderungen, was die Klimaveränderung betrifft. Neben einer grüneren und nachhaltigeren Gestaltung von Plätzen, Parks und Verkehrsachsen, will man deshalb auch brachliegende Hafenbecken aktivieren – denn sind sie nicht letztlich auch nur ungenutzter öffentlicher Raum?
Als Vorboten der zukünftigen Entwicklung dümpeln im Rijnhaven bereits fünf schwimmende Hotelsuiten sowie das Floating Office. Die Hotelsuiten sind sogenannte Wikkelhäuser: aus Wellkarton gemachte, modulare und nachhaltige Tiny Houses, entwickelt von der Baufirma Fiction Factory. Karton wird schichtweise um eine Form gewickelt, innen mit Flachs gedämmt und außen mit einer Holzverkleidung versehen. So entstehen 1,20 Meter tiefe Module, die man zu Häusern mit 15 bis 60m2 koppeln kann. Im Rijnhaven schwimmen sie als Tiny-House-Boote auf Pontons, verbunden durch Stege.
Floating Office
Daneben treibt jedoch bereits ein viel größeres Bauwerk im Wasser: das Floating Office, entworfen vom Rotterdamer Büro Powerhouse Company. Der größte schwimmende Bürobau des Landes entstand im Auftrag der Stadt Rotterdam und des Global Center on Adaptation (GCA) und umfasst neben Büroflächen für GCA und das Architekturbüro auch ein Restaurant und einen Badesteg. Ein Sprung ins Hafenbecken empfiehlt sich bislang nur für Mutige, aber sobald die Mehlfabrik in ein paar Jahre stillgelegt ist, kann der Rijnhaven zum offiziellen Schwimmgewässer werden.
Die Basis des Floating Office besteht aus 15 Betonpontons à 24 x 6 Meter, die auf dem Wasserweg zum Standort gebracht wurden. Darauf ruht eine dreigeschossige modulare Skelettkonstruktion aus Leimbindern mit zwei stabilisierenden Kernen sowie Decken und Wänden aus Brettsperrholz. Zwischen all der auffälligen Stararchitektur in der Umgebung wirkt die Gestaltung des treibenden Büros mit seinem archetypischen Satteldach eher schlicht. Die Gründe dafür sind pragmatischer Art: Einerseits erforderte der Balanceakt, den der Bau auf dem Wasser vollführen muss, einen symmetrischen, nicht allzu hohen Aufbau, andererseits sorgen die großen Dachüberstände für eine energiesparende Verschattung der Glasfassaden. Die Wahl von Holz als Baumaterial war naheliegend, denn es wird für die meisten schwimmenden Gebäude in den Niederlanden verwendet. Abgesehen von seiner positiven CO2-Bilanz, ist es leicht und drückt die Betonwanne nicht tiefer als nötig ins Wasser. Außerdem konnte der Bau dank der Holzmodulbauweise viel schneller fertiggestellt werden als ein konventionelles Bürohaus.
Ein Park am, um und auf dem Wasser
Direkt neben dem Bürobau treibt außerdem eine kleine Grüninsel im Wasser. Ihr sollen in Zukunft mehrere andere Inseln folgen, bis eine komplette Spazierroute im Hafenbecken entsteht. Sie schließt an einen neuen Park an, dessen Anlage am Ostende des Hafenbeckens gerade begonnen hat: Dort kann man seit einigen Monaten Schleppsaugbagger beobachten, die Sand aufschütten. Insgesamt wird etwa ein Drittel des Hafenbeckens zu Land gemacht. Dort gibt es Pläne für eine Reihe von Hochhäusern mit 3000 Wohnungen sowie einen neuen Stadtpark inklusive Strand.
Bis dahin können Besucher bereits das Floating Office begutachten, aber natürlich auch Wikkelboats als Hotelzimmer mieten. So ist ein beinahe ungenutztes Hafenbecken zu einem der interessantesten Projektgebiete in Rotterdam geworden – das Sie auf einer Architekturführung mit architour besuchen können.
Text: Anneke Bokern, architour
Links:
https://wikkelhouse.nl/
https://wikkelboat.nl/
https://www.powerhouse-company.com/floating-office-rotterdam
Im niederländischen Monopoly-Spiel ist der Coolsingel als dritte der grünen Straßen eines der teuersten Pflaster. Auch in Wirklichkeit ist er eine prominente Adresse in Rotterdam: Er durchkreuzt das Stadtzentrum von Nord nach Süd, gesäumt von Büro- und Geschäftsbauten, aber auch von den wenigen öffentlichen Gebäuden, die das Bombardement im Zweiten Weltkrieg überlebt haben: dem Rathaus, der alten Hauptpost und der Börse. Was dem Coolsingel bis vor kurzem jedoch fehlte, war Aufenthaltsqualität. Die Gehsteige waren verstellt von zahlreichen Imbisspavillions, kombiniert mit wenig ansehnlichem Straßenmobiliar. Neben dem Gehweg lag ein schmaler Radweg und daneben auf jeder Seite zwei Autospuren, die eine zentrale Straßenbahntrasse flankierten. Täglich brausten 22.000 Autos mit bis zu 50 Stundenkilometern den Coolsingel entlang. Das hat sich nun dank einer von West 8 entworfenen, 58 Millionen Euro teuren Neugestaltung gründlich geändert.
Ursprünglich war der Coolsingel eine der Grachten, die die Befestigungsanlage von Rotterdam bildeten. Zwischen 1913 und 1921 wurde er zugeschüttet und der so entstandene Boulevard mit einer Reihe repräsentativer öffentlicher Gebäude bebaut, später gefolgt von Hotels, Kinos und Kaufhäusern. Nach dem Krieg entschied man sich für eine autogerechte Einrichtung der Innenstadt und machte den Coolsingel zur Hauptverkehrsader.
Von der autogerechten Stadt zur City Lounge
Seit 2008 fährt die Stadt jedoch einen entgegengesetzten Kurs und will die Innenstadt in eine „City Lounge“ verwandeln. In der modernen Hafenstadt ist der Ruf nach Gemütlichkeit immer lauter geworden, weshalb nun in Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung und zur Aufwertung des öffentlichen Raums investiert wird. Dementsprechend soll der Coolsingel nicht mehr nur als Durchgangsroute dienen, sondern vor allem Teil eines S-förmigen Spazierwegs von der Galeriemeile Witte de Withstraat zur Einzelhandelsstraße Meent sein.
Dafür ließ West 8 die Westseite als breiten Boulevard einrichten. Als Bodenbelag dient auf den Gehwegen, die nun weitgehend frei von Pavillons sind, ein indischer Sandstein, dessen Beigeton gut zum Sandstein, Travertin und dunklen Klinker der Gebäude passt. Zwar wurden einige alte Platanen gefällt, aber es wurden auch neue gepflanzt, so dass letztlich 38 zusätzliche Bäume am Coolsingel stehen. Rundliche Sitzbänke, Hochbeete mit Sitzrand und ornamentale Lichtelemente, die West 8 speziell für den Coolsingel entworfen haben, runden das Bild ab. Daneben verlaufen auf der Westseite der Straße zwei schwarz asphaltierte Spuren für Autos, die nur noch maximal 30 Stundenkilometer fahren sollen.
Auf der Ostseite liegt ein ebenfalls zweispuriger, 4,50 Meter breiter, beigefarben asphaltierter Radweg. Seine Farbgebung ist ungewöhnlich und zeugt vom Sonderstatus des Coolsingel, denn der Asphalt niederländischer Radwege ist normalerweise rot. Unter dem Pflaster befindet sich ein Drainagesystem, das Regenwasser direkt in den Boden infiltrieren lässt anstatt es in die Kanalisation zu leiten.
Der neue Coolsingel, auf dem es nur noch halb so viel Autoverkehr wie zuvor geben soll, will Scharnier statt Barriere im Stadtraum sein. Das einzige, was sich nicht verändert hat, ist die Straßenbahntrasse, die aus finanziellen Gründen an ihrem zentralen Ort belassen wurde.
Text: Anneke Bokern, Architour
Due to its location in the delta of the river Rhine, Rotterdam is often referred to as Delta Metropolis. As impressive as that may sound, it also entails some challenges. What to do with increasing precipitation in a city that lies largely below sea level, and where water comes from all directions: from the sea, the river, the ground and the sky? The most popular keyword at the moment is multicoding. This results in projects such as a public square that also serves as rainwater retention facility, or a vegetable field on the roof of an office block.
On this virtual tour you’ll experience several bottom-up initiatives for climate change mitigation and rainwater retention, highlighting experimental approaches to spatial challenges.
Host: Anneke Bokern, architour
Anneke Bokern is a renowned architecture journalist and founder of architectural tour company architour. She was born in Frankfurt/Germany and has been living in Amsterdam since 2000. She holds an M.A. in History of Art from FU Berlin and writes about architecture and design in the Netherlands. Her articles have appeared in a.o. DETAIL, Bauwelt, Baumeister, db, Domus Germany, Mark Magazine, Azure Magazine and HÄUSER. In 2004 Anneke decided to share her knowledge about Dutch building culture with visitor groups from abroad and founded architour. She runs the company, which currently has a team of 14 freelance guides, together with Paul Vlok.
Rotterdam erlebt gerade einen enormen Hype, den es hauptsächlich seinen drei neuen Architekturikonen verdankt: dem Hauptbahnhof von Team CS, der Markthalle von MVRDV und dem Hochhaus De Rotterdam von OMA. Internationale Medien schwärmen von der Metamorphose der Hafenstadt, die sich allmählich von Amsterdams hässlicher kleiner Schwester zum viel cooleren und interessanteren Gegenpart der Grachtenstadt zu wandeln scheint.
All den Hochglanz-Ikonen zum Trotz, bietet Rotterdam aber noch viel Raum für Verbesserung, denn kaum eine andere holländische Stadt zählt so viele Rückseiten und vergessene Lücken. Gleichzeitig gibt es im Stadtzentrum nicht genügend Wohnraum. Daher initiierte die Stadt im Jahr 2012 das Programm Klein & Fijn, für das eine Karte aller Baulücken im Stadtzentrum erstellt wurde, die Raum für bis zu 30 Wohnungen boten.
Raum für Experimente
Im Laufe der letzten Jahre wurden mehrere Nachverdichtungsprojekte realisiert – darunter auch einige, die jenseits der Grenzen der Klein & Fijn-Karte liegen. Allen ist gemeinsam, dass die Grundstücke zwar nicht viel Platz boten, aber dafür umso mehr Raum für Kreativität und Experimente.
In der Gouvernestraat haben alle Häuser Klinkerfassaden. Das gilt auch für das neueste Gebäude, das seit 2016 in einem schmalen Spalt steht, der als Durchgang zu einem öffentlichen Innenhof dient. Nur die wenigsten wissen, dass die Klinker – entwickelt vom Büro Architectuur MAKEN – etwas besonderes sind: Sie bestehen aus recyceltem Bauschutt und wurden hier zum ersten Mal als Fassadenmatieral verwendet. Nur die Kopfsteine, die in der Mitte durchgesägt sind und ihr meliertes Innenleben voller Glas und Keramikpartikeln preisgeben, verraten die Geschichte der Klinker. Im Haus befinden sich vier Wohngeschosse mit jeweils einem vier mal acht Meter großen, offenen Raum und einer Dachterrasse im Obergeschoss.
Noch schmaler ist ein Haus im Norden der Stadt, das den passenden Namen SkinnyScar trägt. Mit einer Breite von 3,70 Meter genügte die Lücke in einer Reihe alter Wohnhäuser eigentlich nicht einmal den Mindestanforderungen an Baugrundstücke, die eine Breite von 4,50 Meter haben müssen. Das konnte Gwendolyn Huisman und Marijn Boterman jedoch nicht schrecken. Nach zweijährigen Verhandlungen mit der Stadt, gelang es dem Architektenpaar, das Grundstück zu kaufen und 2016 ihr Traumhaus fertig zu stellen. Während die Straßenfassade aus dunkelbraunem Klinker recht geschlossen ist, öffnet sich das Haus auf der Rückseite mittels einer großen Faltglaswand und Fensterfronten zum Garten. Ein kompakter Kern, um den sich das Treppenhaus wickelt, bietet Stauraum und sorgt für Stabilität.
Bauen auf nicht vorhandenen Grundstücken
Ungekrönter König der urbanen Nachverdichtung in Rotterdam ist jedoch der Architekt Joost Kühne. Er hat bereits mehrere Lückenhäuser realisiert, darunter schon 2009 sein eigenes Bürohaus in der Boomgaardstraat. Das 54 Meter lange, aber nur 5 Meter tiefe Gebäude wurde auf einem nicht existenten Grundstück errichtet und schwebt auf Stützen über einem bestehenden Parkplatz, so dass kein einziger Stellplatz geopfert werden musste. Im Inneren des industriell anmutenden Klinkerbaus befinden sich Büroräume sowie ein 220 m2 großes Apartment im Obergeschoss.
Gleich um die Ecke liegt ein weiteres Projekt von Kühne & Co – wobei man in diesem Fall eigentlich eher von „hängen“ sprechen müsste. Der Boomgaardhof ist nicht viel mehr als ein Leerraum zwischen zwei Straßen, gesäumt von Gebäuderückseiten, und dient als Lieferhof. Kühne & Co realisierten dort 2010 ein kleines Nachverdichtungsprojekt, das in 5,50 Meter Höhe über der Hofeinfahrt hängt. Der Eingang befindet sich in einem schmalen Betonvolumen mit abgerundeten Ecken, das an die Häuser auf der Nordseite des Hofes anschließt. Verbundträger überspannen den Abstand zu den Nachkriegsbauten auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes, so dass eine Tischkonstruktion ensteht. Die Fassade besteht aus Stahlträgern und vorgefertigten Klinkerpaneelen mit großen Fenstern, die zugunsten der Privatsphäre gegeneinander versetzt angeordnet sind. Im Inneren befinden sich eine 150m2 große Wohnung und 50m2 Büroraum – obwohl nur 26m2 Grundfläche benutzt wurden.
Wie diese Bauten demonstrieren, können kleine, punktuelle Eingriffe manchmal genauso interessant sein wie riesige neue Ikonen. Solche Nachverdichtungsprojekte zeigen aber auch auf, dass in dicht besiedelten Gebieten eventuell viel weniger raumfressende Stadterweiterungsprojekte notwendig sind, als wir alle annehmen. Vielleicht müssen Architekten, Städte und Entwickler nur die Augen öffnen – und etwas Mut zur Lücke beweisen.
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Text: Anneke Bokern von architour, Mitglied von Guiding Architects in Amsterdam und Rotterdam.
Erste bild: “House in Gouvernestraat by Architectuur MAKEN (2016). Copyright: Ossip van Duivenbode”.
http://architectuurmaken.nl/projecten/zelfbouw-rotterdam/
https://skinnyscar.wordpress.com/
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